Ich bin einer großen Sache auf der Spur. Wie Sie wissen, sammle ich Geschichten. Manchmal auch Kriminalgeschichten, so wie zuletzt auf Malta. Doch während man auf Malta immerhin weiß, wie Daphne Caruana Galizia ums Leben kam, ist der Fall Emanuela Orlandi völlig ungelöst. Emanuela, die Tochter eines Dieners von Papst Johannes Paul II, war erst 15 Jahre alt, als sie am 22. Juni 1983 auf dem Heimweg vom Musikunterricht spurlos verschwand. Glauben Sie mir, ich erinnere mich tatsächlich noch an den Fall Emanuela Orlandi, der damals große Schlagzeilen verursachte. Von einer Entführung und Erpressung war die Rede. Und der damalige Papst Johannes Paul II. schien deutlich mehr über den Fall zu wissen, als er öffentlich bekundete. Der Stoff, aus dem Verschwörungstheorien gestrickt sind. Musste Emanuela sterben, weil der Vatikan sich nicht erpressen lassen wollte? Natürlich waren alle diese Spekulationen wenig hilfreich für die Familie des vermissten Mädchens. Was hat diese alles durchmachen müssen. Verzweiflung, Trauer, aber hin- und wieder auch Hoffnung. Alle Ermittlungen der Polizei verliefen jedoch im Sande. Weder führte die Ausstrahlung im italienischen Aktenzeichen XY zur Lösung des Falles, noch die Öffnung einiger Gräber, in denen Emanuela angeblich verscharrt worden sei.
Vor einem Jahr erhielt die Anwältin der Familie Orlandi einen anonymen Brief, in dem sich ein konkreter Hinweis auf den Ort befand, wo sich die Leiche Emanuela Orlandis befinden soll: auf dem Campo Santo Teutonico, dem deutschen Pilgerfriedhof. Papst Franziskus wird sich wohl der Sache angenommen haben, denn dieser anonyme Hinweis sollte nicht unter den Teppich gekehrt werden. Der Vatikan versprach der Familie, dass man handeln werde. Am 11. Juli 2019 war es soweit: In Anwesenheit des Bruders von Emanuela und Vertretern des Vatikans wurden zwei Gräber geöffnet. An diesem Tag war der deutsche Friedhof für sonstige Besucher natürlich gesperrt. Ansonsten können Sie, liebe Leserinnen und Leser, diesen Friedhof durchaus besuchen, wenn Sie bei der Schweizer Garde auf Deutsch diesen Wunsch äußern. Der Friedhof liegt zwar seit den Lateranverträgen von 1929 als exterritoriale Besitzung des Heiligen Stuhls auf italienischem Staatsgebiet, ist aber nur über das Staatsgebiet des Vatikans zugänglich, da seine Friedhofsmauer direkt auf der Staatsgrenze zwischen Italien und dem Vatikan liegt.
Heute ist der 18. Juli 2019 und ich gehe davon aus, dass der Friedhof wieder frei zugänglich ist. Frei zugänglich heißt, dass ich zuerst die Sicherheitskontrollen an der Staatsgrenze passieren muss, um danach von der Schweizer Garde den Grenzübertritt auf vatikanischen Boden gewährt zu bekommen. „Der Friedhof schließt um 12.00. Gehen Sie hier ein Stück geradeaus und dann dort vorne nach links. Dort ist der Eingang zum Campo Santo Teutonico.“ Freundlich, diese Gardisten aus der Schweiz. Sogar fotografieren lassen sie sich, aber nur dann, wenn ich hinter die weiße Linie zurücktrete. Ordnung muss sein. Ich laufe zum Platz der ersten römischen Märtyrer, der seinen Namen dem Bericht des römischen Schriftstellers Tacitus verdankt, denn genau hier war einst der Circus, in dem Kaiser Nero die ersten römischen Christen ermorden ließ. Rechts ist der Petersdom, links der von hohen Mauern umgebene Friedhof. Sobald man durch das Tor tritt, hat man nicht nur das Staatsgebiet des Vatikans verlassen, sondern auch die tausenden und abertausenden Touristen, die den Petersplatz und den Petersdom bevölkern.
Was für eine Oase der Ruhe. Und der Natur. Ich bin begeistert. Der fast quadratische Friedhof ist in vier Abschnitte aufgeteilt. In der Mitte befindet sich seit 1857 ein Bronzekreuz, das von meinem Berliner Landsmann, W. Hopfgarten, gegossen wurde. Ein Detail, das entweder völlig unwichtig ist, oder auch nicht. Ich werde darauf zurückkommen.
So, Sherlock Manfred, und wo befinden sich jetzt die Gräber, die vor einer Woche geöffnet wurden? Wie hieß es in dem anonymen Brief? Schaut, wohin der Engel schaut! Ich muss zugeben, dass ich ohne die Hilfe des Internets jetzt ein wenig ratlos wäre. Ich bin hier auf einem Friedhof. Mit sehr vielen, sehr schönen Statuen. Welcher Engel, bitte? Zum Glück stoße ich in der online Ausgabe des Tagesspiegels (Achtung: eine Berliner Zeitung…) auf ein Foto, auf dem vier behelmte Männer in blauer Arbeitskleidung vor einem Engel sitzend den Erdboden bearbeiten.
Dieser Engel ist schnell gefunden. Er schaut auf eine Grabplatte, auf der in Latein eine nicht leicht zu entziffernde Gravur darauf hinweist, dass hier Sophie von Hohenlohe ihre letzte Ruhestätte gefunden hat. Links vom Engel sind eine Statue und ein Sarkophag, laut Inschrift das Grabmal für Charlotte Friederike von Mecklenburg-Schwerin. Rechts des Engels ist die 13. Kreuzwegstation: Jesu Leichnam wird vom Kreuze genommen.
Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier Gräber geöffnet wurden. Alles sieht so aus, wie vor der Graböffnung. Oberflächlich. Aber unter der Oberfläche? Was hat man dort gefunden?
Der Engel schweigt, als ich ihn um Aufklärung bitte. Er wirkt etwas traurig, fast melancholisch. Was hat er gesehen, worüber schweigt er so beharrlich? Ich bin sicher, dass er ein Geheimnis in sich trägt. Das Geheimnis, was sich unter der Grabplatte befand, ist allerdings nunmehr gelüftet. Beide geöffneten Gräber waren – komplett leer. Weder die Gebeine der deutschen Adelsdamen, noch Überreste von Emanuela Orlandi, es lag einfach nichts in den Gräbern. Dabei müssten doch wenigstens die beiden deutschen Damen hier noch ruhen. Wo sind die Gebeine der 1840 verstorbenen Mutter des dänischen Königs Friedrich VII.? Und wo die Knochen der Sophie von Hohenlohe? Der Fall wird immer mysteriöser. Stattdessen wurde unter den Gräbern ein mit einer Falltür verschlossenes Beinhaus entdeckt. Dieses Beinhaus erstreckt sich bis unter das direkt neben der 13. Kreuzwegstation befindliche deutsche Päpstliche Priesterkolleg. Zitat aus dem Tagespiegel: „Diese sogenannten Beinhäuser und das dortige Knochenmaterial seien sichergestellt worden, erklärte Vatikansprecher Alessandro Gisotti am Samstag. Es solle am kommenden Samstag (20. Juli) untersucht werden.“
Die Lehrkräfte, die 20 Studierenden des Priesterkollegs (Schwerpunkt Kirchengeschichte) und ich müssen uns also noch gedulden. Genug Zeit für mich, außer den Friedhof auch noch die der Schmerzhaften Muttergottes geweihte Kirche S. Maria della Pietà zu besichtigen. Eine angenehme, relativ schlicht ausgestattete Kirche. Sie weist einen ungewöhnlichen, fast quadratischen Grundriss auf. Im Schnell Kunstführer „Campo Santo Teutonico Rom“ finde ich dazu folgendes Zitat: „Typologisch eng verwandt mit der Campo-Santo-Kirche, doch historisch und geographisch etwas entlegen, ist die ehem. Marienkirche auf dem Harlunger Berg bei Brandenburg aus der ersten Hälfte des 13. Jh. Sowohl Grundriss wie spezifische Merkmale stimmen z.T. so genau überein, dass ihr Grundriss, nach Tönnesmann, in Rom bekannt gewesen sein muss.“ Schon wieder ein Hinweis auf Berlin (Brandenburg), und wenn sogar der 2014 verstorbene Prof. Andreas Tönnesmann diese Verbindung festgestellt hat, dann ist sie über jeden wissenschaftlichen Zweifel erhaben. Zumal, und das sei hier nur am Rande erwähnt, Prof. Tönnesmann als privater Sachverständiger zu den Unterstützern des Erhalts des Stuttgarter Hauptbahnhofs zählte. Aber jetzt schweife ich wohl etwas vom Thema ab.
Beeindruckend für mich als geborenen Lutheraner sind hier nicht nur die sehr schönen Fresken, insbesondere die in der Schweizerkapelle, sondern auch die beiden Barockgrabmäler an den Chorpfeilern. Links das für den Tiroler Bildhauer Laurentius Rues, rechts das für den Bamberger Prälaten Georg Meisel. Was für imposante Knochenmänner. Nicht Rues und Meisel natürlich, sondern die hier dargestellten Skelette auf deren Grabmälern.
Ich mache noch einmal eine Runde über den Friedhof. Was für ein schöner Friedhof. So manchem Pilger wird hier gedacht, aber auch so manchem Menschen, der lange Zeit seines Lebens in Rom verbracht hat. Rom, wahrlich kein schlechter Ort zum Leben. Rom, ob Du das Geheimnis des Verschwindens Emanuela Orlandis jeweils lüften wirst? Hier, auf dem Campo Santo Teutonico, wird man wohl kaum die Leiche des Mädchens finden. Wie hätten die Mörder Emanuelas sie denn auch hier auf diesem doch so gut bewachten Friedhof verscharren können? Aber eines ist auch klar: wo auch immer man in Rom und im Vatikan anfängt zu graben, wird man immer irgendeine interessante Entdeckung machen. Und was hat das hier nun alles mit den oben genannten Hinweisen auf Berlin zu tun? Mehr dazu in meinem Buch.