Tomas Chepaitis, der Außenminister der Republik Užupis, war noch in Amsterdam beim 9. Symposium „on free culture space“, als ich ihm meine Kontaktanfrage per email schickte. Seine Adresse hatte ich von Britta Lillesøe aus Christiania erhalten, vielleicht können Sie sich noch daran erinnern. Ist ja erst ein paar Wochen her. Jetzt ist Tomas wieder zuhause und auch ich bin aus Kaliningrad kommend in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, eingetroffen. Tomas lebt natürlich im Stadtteil Užupis, also „hinter dem Fluss“, wo er 1997 zusammen mit anderen Künstlern im Rahmen einer Kunstaktion die „Republik Užupis“ gründete.
Seine Antwort auf meine Frage, wann und wo wir uns treffen könnten, spricht Bände: „Lass uns um 11.00 Uhr beim Engel-Denkmal treffen. Es wird kalt!“ Einerseits ist es nicht verwunderlich, dass Tomas den Hauptplatz von Užupis als Treffpunkt vorschlägt, denn die Statue mit dem Bronzeengel gilt als so etwas wie das Wahrzeichen der Künstlerrepublik. Und andererseits trifft er den Nagel auf den Kopf mit seiner Bemerkung zum Wetter. Es ist wirklich kalt geworden. Von meinem Fenster aus kann ich beobachten, wie sich die Blätter an den Bäumen bemühen, sich nach dem ersten Nachtfrost wieder zu erwärmen.
Natürlich bin ich bereits um fünf vor elf beim Engel, und natürlich kommt Tomas um zwanzig nach elf ebenfalls beim Treffpunkt an. Ein Künstler halt, der Tomas. Ob ich rauche? Nein, ich bin Nichtraucher. Also muss sich Tomas eine Zigarette von jemand anderem erschnorren. „Was willst Du Dir anschauen? Hast Du ein besonderes Ziel?“ Nö, habe ich nicht. Ich erläutere Tomas, dass ich einfach ein paar Geschichten sammeln möchte, was sich eben so ergibt. In diesem Moment sieht Tomas einen Zettel, der am Café neben dem Engel angeschlagen ist.
Eine Einladung zu einem Stadtteiltreffen am heutigen Tage um 11.00 Uhr, organisiert von Andreas Rodenbeck, einem seit vielen Jahren in Užupis lebenden Deutschen. „Wenn es Dich interessiert, können wir da mal vorbeischauen“, schlägt Tomas vor. Und ob ich Interesse habe! Also machen wir uns auf den Weg zum Gymnasium, in dem das Treffen stattfindet. Unterwegs zeigt mir Tomas schon einmal ein paar interessante Gebäude. „Hier links befindet sich das thailändische Konsulat. Wir unterhalten offizielle diplomatische Beziehungen mit Thailand. Früher war in dem Gebäude unser Radio untergebracht.“
Ein Stückchen weiter hoch des Weges weist Tomas auf ein langes Holzhaus auf der anderen Straßenseite. „Das ist das längste Holzhaus von Užupis. Früher gab es hier sehr viele Holzhäuser. Nach dem Krieg sind aber viele dieser Häuser verfallen.“
Vor dem Krieg lebten vor allem Juden in Užupis, von denen fast alle dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer fielen. In der Sowjetzeit zogen viele Obdachlose, Prostituierte und Gangster in das Viertel, was nicht gerade zum städtebaulichen Erhalt beitrug. Somit war es nach dem Zerfall der Sowjetunion für mittellose aber kreative Künstler ein leichtes, in Užupis Platz zum Wohnen und Arbeiten zu finden. „Als wir dann die ‚Republik Užupis‘ ausriefen, gab es unter den Politikern und in den Behörden zwar viele Skeptiker und Gegner, aber wir hatten auch Sympathisanten in der Stadtverwaltung und in der Regierung. Und wir waren sehr schnell sehr erfolgreich. Alles wurde bunter, aber auch sauberer. Viele Gebäude wurden saniert. Unsere Köpfe waren voller Ideen. Es war unübersehbar, dass es mit Užupis bergauf ging. Also ließ man uns zumeist in Ruhe unsere Ideen leben.“
Der Zuzug der Künstler und eines Teils der städtischen Bohème verwandelte das schmuddelige Viertel in einen bunten, lebendigen Stadtteil mit Cafés, Galerien, Ateliers, kleinen Betrieben, und, und, und.. „Am besten war es in den ersten fünf Jahren. Ständig passierte etwas neues, das Leben war herrlich. Dann kam eine gewisse Routine. Und jetzt haben wir die gleichen Probleme wie überall in den Großstädten.“ Stichwort Gentrifizierung. Užupis ist inzwischen eines der teuersten Wohnviertel von Vilnius. Und Gentrifizierung ist auch eines der Themen beim „open space meeting“, zu dem wir nunmehr eingetroffen sind.
In der Aula der Schule sitzen etwa vierzig Bewohner von Užupis im Stuhlkreis in der Vorstellungsrunde. Schnell werden zwei Stühle für Tomas und mich hinzu gestellt. Es ist eine sehr gemischte Runde, die sich hier eingefunden hat: Künstler, Studenten, Rentner, Lehrer, Beamte, und auch Geschäftsleute. Nach der Vorstellungsrunde gibt es eine kurze Pause, in der ich mit Andreas (hier rechts im Bild mit dem blauen Pullover) ins Gespräch komme.
„Ich bin der Generalbotschafter der Republik Užupis für Deutschland, ich wohne hier, habe an der Schule gearbeitet, habe selber eine Schule und einen Kindergarten gegründet. Užupis hat sehr viel an Attraktivität verloren für die Leute, die hier wohnen. Vor acht Monaten haben wir uns mit all den alten Bewohnern von Užupis getroffen und es gab viele Ideen bei dem Treffen, aber es ist überhaupt nichts daraus entstanden, weil die Leute auch nicht wissen, wie man so ein demokratisches Format führt. Deswegen habe ich vor sechs Monaten zum ersten Mal so ein ‚open space‘ veranstaltet. Ich habe schon häufig an solchen Treffen teilgenommen. Ich fand das sehr spannend und wollte dann ausprobieren, selber ein ‚open space‘ zu leiten. Aus diesem ersten Treffen sind ein paar Initiativen entstanden. Ich glaube, dass sich Užupis so ein bisschen selbst erfinden muss. Inzwischen hat man ja schon viele Filme über uns gemacht, das macht man sonst meistens über Tote. Wir müssen ein größeres Gemeinschaftsgefühl für dieses Viertel entwickeln, auch mit Blick auf die ganze Situation weltweit. Deswegen habe ich vorher auch den Film ‚Tomorrow‘ gezeigt, in dem es darum geht, dass man in kleinen Gärten sein eigenes Essen anpflanzt, wie man Müll entsorgt, und so weiter. Ich glaube, dass man mit Gemeinschaft vieles wieder gut machen kann. Man braucht dafür Menschen aus allen Bevölkerungsschichten. Nur Künstler, das kannste vergessen.“
Letztendlich unterscheiden sich die Probleme des Stadtteils Užupis kaum von denen, die die Stadtteile aller Städte haben. Was ist denn nun so besonderes an Užupis? Tomas und ich diskutieren diese Frage nach einem kurzen Spaziergang im Regierungssitz der Republik, im Café Užupio Kaviné (Café von Užupis).
„Wir sind keine ‚Utopie‘. Diesen Begriff lehne ich ab. Wir hatten eine Idee, die zur Realität wurde. Diese Idee muss sich stets weiterentwickeln. Vielen der neuen Bewohner gefällt diese Idee der ‚Republik Užupis‘. Beim Stadtteiltreffen waren ja auch einige Leute, die hier geboren wurden, dann Užupis verließen, aber jetzt wieder hierher zurück zogen. Der Stadtteil Užupis und die Republik Užupis sind nicht identisch, haben aber sehr viele Gemeinsamkeiten.“ Ein wichtiger Identitätsstifter, wenn nicht gar der wichtigste, scheint mir die geniale Verfassung von Užupis zu sein.
Tomas ist gerührt, als ich ihm erzähle, wie begeistert ich von der Verfassung bin. „Ja, unsere Verfassung. Die haben Romas und ich in ein paar Stunden in meiner Küche geschrieben. Immer abwechselnd, jeder immer einen Artikel.“ Romas Lileikis, der Präsident der Republik Užupis (oder auch der „Užurpator“, wie Tomas ihn schmunzelnd bezeichnet) und Tomas müssen sehr viel Spaß dabei gehabt haben, als sie in der Küche der damaligen Wohnung von ihm in der Užupio Straße 7, Apartment 34 („Ganz oben unter dem Dach, dort wo das Dreieck ist. Es gibt Fenster im Dach“) saßen und sich die Artikel wie beim Ping-Pong gegenseitig zuspielten.
Mehr über die Verfassung sowie meine Bestellung zum Botschafter der Republik Užupis erfahren Sie in meinem Buch.
Über die Republik Užupis und ihren Außenminister gibt es auf YouTube einen wunderbaren Film der Deutschen Welle, zu dem Sie hier per Klick gelangen. Und zu meiner Bildergalerie Užupis geht es hier.