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„Ole kennt sich aus!“

Einfach reingehen und mal schauen, so lautet heute meine Devise. Viel ist über „Fristaden Christiania“ geschrieben worden, viele waren schon hier, in diesem befreiten? Stadtviertel mitten in Kopenhagen. Ist Christiania denn nun ein Freistaat, eine Freistadt, oder eine Freistätte? Wikipedia führt Christiania in der Liste der Mikronationen und wahrscheinlich ist keine dieser dort gelisteten illustren Gebilde bekannter als Christiania, diese „Hippierepublik“ in Dänemark. Noch zwei Jahre, dann können die „Althippies“ den fünfzigsten Geburtstag Christianias feiern. Im Frühjahr 1971 zog das Militär aus seinem Kasernenkomplex im Kopenhagener Stadtteil Christianshavn aus und hinterließ ein 22 Hektar großes Gelände mit Gebäuden, die teilweise noch aus dem 18. Jahrhundert stammten.

Ein attraktives Gelände im Stadtzentrum, ein Filetstück für Stadtplaner und Investoren. Doch es kam anders als geplant. Im Herbst 1971, als die Planungen für die Nutzung des Geländes offenbar ins Stocken geraten waren, zogen Obdachlose in die ersten Gebäude ein. Schnell kamen Studenten, Hausbesetzer, „Alternative“ und sonstige Langhaarige hinzu und begannen sich auf dem Gelände auszubreiten.

 

Ende des Jahres 1971 lebten bereits drei- bis vierhundert Menschen in Christiania. Die Bewohnerinnen und Bewohner begannen, Strukturen zu schaffen, um die ganz praktischen Fragen der Besiedlung, Instandsetzung, Stromversorgung und so weiter anzugehen. Das ist ja nichts Besonderes. Wikinger haben diesbezüglich jahrhundertelang Erfahrungen gesammelt. Gelände erobern, Siedlungen gründen, Wasserversorgung, alle diese praktischen Dinge halt. Traditionell wurde dann auch immer ein Versammlungshaus (tinghus) eingerichtet, denn diese Dinge müssen ja irgendwo besprochen werden. Natürlich unterschieden sich auch die Wikinger der frühen siebziger Jahre diesbezüglich nicht von ihren Altvorderen.

Es ist schon beeindruckend, wie modern sich auch heute noch eine gemeinsame Erklärung der Bewohnerinnen und Bewohner Christianias vom 13.11.1972 liest, die durchaus auch als eine Art „Verfassung“ angesehen werden kann: „Christianias erklärtes Ziel ist der Aufbau einer sich selbst verwaltenden Gesellschaft, in der sich jeder frei in Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft entfalten kann. Diese Gesellschaft soll ökonomisch unabhängig sein. Ziel der gemeinsamen Bestrebungen ist es, beispielgebend zu zeigen, dass physische und psychische Verkrüppelung vermeidbar ist.“

Also auf nach Christiania. Wie gesagt, einfach reingehen und mal schauen, so lautet heute meine Devise. Nicht weit vom Eingang entfernt treffe ich in Christiania auf ein Haus mit einem Banner und dem Schriftzug „Vi Bygger Grønt – Christiania´s Selvforvaltning“ an der Fassade.

Man muss ja nicht unbedingt Dänisch studiert haben, um einerseits zu verstehen, dass sich hier ein Gebäude der Selbstverwaltung Christianias befindet, und sich andererseits darüber zu freuen, dass man hier „grün baut“.

Ich laufe die Außentreppe hoch und betrete das Gebäude. Ein großer offener Raum, von dem aus einige Büros abgehen. Da es sich ja immer wieder bewährt hat, steuere ich auch hier ein Sekretariat an und treffe bereits auf dem Weg dorthin auf eine Frau etwa meines Alters, die mich etwas skeptisch mustert. Sind die Touristen jetzt schon so dreist und dringen einfach so in die Selbstverwaltung ein? Ich erkläre natürlich sofort ganz freundlich mein Anliegen (ja, was ist denn eigentlich mein Anliegen?) und merke, wie sich die Züge der Frau entspannen. „Sie sind an der Geschichte Christianias und an seinen Beziehungen zu anderen Mikronationen interessiert? Mal sehen, ob Ole Zeit für ein Gespräch hat. Ole kennt sich aus!“. Das mit den Beziehungen zu anderen Mikronationen ist mir spontan eingefallen. Ist doch gut, wenn man die größeren Zusammenhänge im Blick behält. Sich im Kleinen zu verzetteln geht dann ganz leicht!

 

Und Ole hat Zeit, wieder so ein Glücksfall meiner Reise. Ole Lykke Andersen ist der Stadtarchivar und Leiter des lokalhistorischen Archivs Christianias. Nach ein paar Sekunden ist klar, dass wir gut miteinander können. Ole ist zwar schon über 70, aber den Altersunterschied lässt er mich Jüngling nicht spüren sondern begegnet mir auf Augenhöhe (was mir und meiner Lesebrille entgegen kommt). Wer wie Ole seit 40 Jahren in Christiania lebt und obendrein in seinem vorherigen Leben als Lehrer für Literatur und Geschichte tätig war, der ist wie geschaffen für den Posten des Stadtarchivars. Nun könnte es ja auch sein, dass niemand sonst den Job machen wollte, aber das wäre auch egal. Ole hatte schon in den neunziger Jahren die Idee, ein Archiv einzurichten. „Spätere Historiker werden davon profitieren können, das war mir schon lange klar.“ Viele Menschen denken ja erst im gesetzteren Alter daran, ihre Memoiren zu schreiben oder zeitgeschichtliche Artefakte zu archivieren, aber Ole als studierter Historiker war da deutlich schneller. Ein Glücksfall halt. Für Christiania und jetzt auch für mich.

„Hier in diesen Räumen in der alten Kaserne von 1836 war vorher Christianias Offset Druckerei. Bis in die neunziger Jahre hinein arbeitete sie auch profitabel, aber so nach und nach brachte die Arbeit immer weniger ein und kostete immer mehr. Die Druckerei ging schließlich bankrott und die Räume standen leer, bevor wir hier 2008 begannen, das Archiv einzurichten.“ Heute befinden sich im Archiv z.B. mehr als 22000 Zeitungsausschnitte, ein Großteil der wöchentlich erscheinenden Zeitung Christianias („die Ausgaben der letzten 10 Jahre sind komplett, ein Teil der früheren Ausgaben wanderte leider mal in irgend welche Container und von dort in den Abfall“), etwa 80% der Bücher, die über Christiania veröffentlicht wurden, eine Unzahl an Postern und Plakaten, und und und. „Zuerst dachten wir, dass wir hier ein paar Tische und Sessel aufstellen sollten für die Nutzer des Archivs, aber dann stellte sich heraus, dass es viel mehr Nutzer gibt, die daran interessiert sind, digital auf die Dokumente zuzugreifen. Jetzt sind wir dabei, alle Dokumente einzuscannen und im Netz verfügbar zu machen.“

 

Tatsächlich, während wir uns wie zwei alte Freunde unterhalten, füttert eine Frau pausenlos den Scanner mit Broschüren. „Sie ist arbeitslos und in einem staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm. Bei uns arbeitet sie sieben Stunden in der Woche. Das ist eine win-win-Situation. Hier im Archiv fühlt sie sich wohl und erledigt für uns unentgeltlich eine Arbeit, die sowieso dringend erledigt werden muss. Das Archiv erhält pro Monat 5000 Kronen (etwa 670 Euro) aus dem Gemeinschaftsfond Christianias. Das geht im Wesentlichen für Verbrauchsmaterialien, Heizung und Strom drauf. Gehälter kann ich davon natürlich nicht zahlen. Ich selber bin ja Pensionär und bekomme eine staatliche Pension, wovon ich leben kann.“ Der Großteil der Finanzen des Gemeinschaftsfonds stammt übrigens aus den Einzahlungen der Bewohnerinnen und Bewohner Christianias, und nur 15 – 20% aus Einnahmen und Erlösen von Workshops, Restaurants und Kneipen (in Christiania gibt es eine ganze Reihe Restaurants und Kneipen, die von den vielen Touristen gut frequentiert werden).

 

 

Auch in einem alternativen Lebensraum wie Christiania spielt das liebe Geld eine nicht unwesentliche Rolle. „1991 gab es einen Vertrag mit der damaligen sozialdemokratischen Regierung, der es Christiania ermöglichte, seine finanziellen Belange weitestgehend selbstständig zu erledigen. Und bis auf einige wenige Bereiche mit denkmalgeschützten Gebäuden konnten wir in Christiania frei entscheiden, wo wir bauen wollten und wo wir der Natur ihren Raum geben wollten. Die dann folgende rechte Regierung wollte Christiania am liebsten schließen und machte uns das Leben schwer. 2011 kam es dann schließlich zu einem Gerichtsurteil, dass Christianias Existenz sicherte, allerdings zum Preis einer stärkeren staatlichen Kontrolle. Einen Teil des Geländes mussten wir käuflich erwerben, für einen anderen Teil zahlen wir Pacht an die Stadt. Damals betrug der jährliche Etat 18 Millionen Kronen (etwa 2 Millionen, 414 Tausend Euro). Heute liegt er bei 46 Millionen Kronen (etwa 6 Millionen, 168 Tausend Euro). Alleine für das neue Dach des Gebäudes, in dem wir hier sitzen, müssen wir 25 Millionen Kronen (etwa 3 Millionen, 352 Tausend Euro) bezahlen. Und wir sind per Vertrag dazu verpflichtet, diese Arbeit durchführen zu lassen.“

 

Die steigenden Kosten führen so nach und nach zu einer Gentrifizierung in Christiania, wer hätte das früher für möglich gehalten? „Bis 2011 zahlte jeder Bewohner monatlich 2000 Kronen ein, egal, wie groß das Haus oder Zimmer war, in dem er lebte. Seitdem sind es monatlich 1200 Kronen plus 30 Kronen pro Quadratmeter Wohnfläche. Als Ole im Winter 1979/80 in Christiania einzog, hätte er sich wohl kaum träumen lassen, dass eines Tages aus Hausbesetzern Hausbesitzer würden. Bis zum Sommer 1980 arbeitete Ole noch als Lehrer „draußen“ in Kopenhagen, doch dann stieg er aus dem Staatsdienst aus. Ein radikaler Schritt, den Ole damals vollzog, aber er war vom selbstbestimmten Leben in Christiania überzeugt (und ist es auch noch heute). Hier kümmerte er sich dann viele Jahre lang um die Christiania-Zeitung und sonstige Medienarbeiten.

„Inzwischen sind wir ja weltweit berühmt. Hier ist zum Beispiel ein Buch aus Japan über uns. Eine Frau aus Christiania verbringt viel Zeit in Japan. Und durch sie und das Buch hier wurde Christiania auch in Japan so bekannt, dass unter den tausenden Touristen, die jeden Tag durch Christiania laufen, auch einige Japaner sind.“

Die berühmten Busladungen chinesischer Touristen sehe ich während meiner beiden Tage in Christiania nicht, aber trotz des Regens strömen tatsächlich täglich mehrere Tausend Touristen nach Christiania. „Ist das nicht sehr störend, wenn so viele Touristen hierher kommen und sehen wollen, wie Ihr hier lebt?“, möchte ich wissen. „Wir schützen unsere Privatsphäre durch viel grün“, antwortet Ole. Und in der Tat, es ist grün in Christiania. „In den ersten Jahren war hier alles kahl. Wir haben so nach und nach viele Bäume gepflanzt. In den neunziger Jahren hatten wir einen ‚green-plan‘. Einer der vielen Pläne, die wir aufgestellt haben, als Antwort auf Anforderungen, die uns von draußen auferlegt wurden. Meistens wurden diese Pläne nur zum Teil oder überhaupt nicht umgesetzt, aber die Behörden freuten sich, wenn sie etwas in der Hand hatten.“

Ole zeigt mir dann auch noch ein Buch mit sehr idyllisch anmutenden Wasserhütten. „Hübsch, oder? Eigentlich schade, dass das nie verwirklicht wurde. Überhaupt hätten wir vor 2011 viel mehr unserer utopischen Vorstellungen umsetzen sollen. Hier auf dem Dach der alten Stallungen von 1847 hätten wir zum Beispiel eine Photovoltaikanlage installieren sollen. Das geht jetzt nicht mehr, da das Gebäude unter Denkmalschutz steht und wir jetzt die entsprechenden staatlichen Vorgaben zum Denkmalschutz akzeptieren müssen.“

Die Christianiterinnen und Christianiter tendierten insbesondere anfangs deutlich mehr zum spontanen Bauen und Bäume pflanzen als zum umfangreichen Pläneschmieden nach konventionellen Vorbildern. Aber eine Photovoltaikanlage zu errichten erfordert nun einmal ein gewisses Maß an Fach-Kenntnissen und Planungen, bei denen eine unzähmbare Kreativität sowohl von Nutzen, aber auch von Nachteil sein kann.

Kreativität zählt auch heute noch zu den hervorstechenden Eigenschaften der Hiesigen. Das gilt natürlich besonders für die Künstler. Und über das Kulturleben Christianias kann man kaum eine kompetentere Gesprächspartnerin finden als Britta Lillesøe, an die mich Ole vermittelt. Er ruft Britta an und erfährt, dass sie in etwa 20 Minuten zuhause sei und ich gerne bei ihr vorbeischauen könne. „Das Haus von Britta und ihrem Mann Nils kannst Du nicht verfehlen. An der Fassade steht das Wort ‚Laden‘ und es sind Schilder mit den Aufschriften der Botschaften Ruigoord und Uzupis dort angebracht. Vor dem Haus ist ein sehr schöner Rosengarten.“

Ole hatte mir schon davon berichtet, dass Christiania unter anderem mit den Holländern und Holländerinnen aus Ruigoord, aber auch mit den Litauern und Litauerinnen aus dem Vilniuser Stadtteil Uzupis enge freundschaftliche Beziehungen unterhält. Britta hätte einige Tagungen über „freie Kunst“ organisiert, an denen auch Künstlerinnen und Künstler aus den beiden genannten Kunstrepubliken teilnahmen.

Bevor ich mich auf den Weg zu Britta mache, zeigt Ole mir noch das Studio von Christiania TV. Dort treffen wir auf Martin Nielsen, der für die Filmaufnahmen zuständig ist. Martin findet meine Reise zu den kleinen Staaten so interessant, dass wir für den nächsten Vormittag ein Interview vereinbaren, dass er aufzeichnen und in den YouTube und Facebook Kanälen von Christiania TV veröffentlichen will. So wäscht eine Hand die andere. Ich habe hier meine Geschichte und Martin seinen Beitrag.

Noch mehr Bilder aus Christiania gibt es in der Bildergalerie zu sehen. Hier ist der Link dafür hinterlegt.