Laut Wikipedia ist San Marino Weltrekordhalter: „Die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer betrug 2016 80,7 Jahre für Männer und 86,1 Jahre für Frauen. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 83,3 Jahre. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist San Marino der Staat mit der höchsten Lebenserwartung für Männer.“ Wie schaffen diese Signori das bloß? Ist ja wohl nachvollziehbar, dass ich als junger Ü-60ziger diesem Geheimnis auf die Spur kommen möchte.
Sieht man mal von Winston Churchil ab, gibt es ja viele ernstzunehmende Stimmen, die dem Sport eine positive Wirkung zuschreiben. Nun, dieser Spur lässt sich ja nachgehen. Von meinem Quartier in Domagnano aus laufe ich bergab zum Sportzentrum in Serravalle, der größten Ortschaft San Marinos. Im Nationalstadion treffe ich allerdings nur die Greenkeeper an, die sich mit Rasenmähern und Nagelscheren gerade darum kümmern, dass der Rasen genau richtig getrimmt ist.
Für ein Gespräch über die Langlebigkeit scheinen mir diese gemächlich arbeitenden Herren zwar ganz geeignete Partner zu sein, aber ich kann ja wohl kaum einfach auf den Rasen des Stadions laufen. Ich schaue den Herren noch eine Weile von der im Schatten liegenden Tribüne aus zu und beschließe, mich doch lieber an andere Experten zu wenden.
Im fast direkt an der Staatsgrenze San Marino/Italien gelegenen Café „Bar Confine“ sitzen zwei ältere Herren an zwei Einzeltischen und lesen Zeitung. Ja, liebe junge Leserschaft, Zeitungen, das sind diese mit Bildern und Buchstaben bedruckten Papierstapel, in denen die ältere Generation in Ruhe blättert und liest, was sich in der Heimat und in der Welt so alles zugetragen hat. Aber sind Zeitungen auch social media? Ich meine, kann man denn mit einem Zeitungsleser auch kommunizieren? Ich kann den Herren ja schlecht eine WhatsApp Nachricht schicken, oder sie auf ihrem Facebook Konto kontaktieren. Jetzt steht der eine der beiden auf, zahlt seinen Kaffee, sagt Ciao und verlässt gemessenen Schrittes das Café. Der andere hingegen hat wohl gerade etwas gelesen, was seine Stimmung deutlich eintrübt. Er ruft der Kellnerin etwas zu, was ich aber leider nicht verstehen kann. Die Kellnerin hätte es vielleicht auch lieber nicht verstanden, denn mit einem Wortschwall fällt sie über den alten Herrn her, der irritiert zusammenzuckt. Irgendetwas grummelt er zurück. Nein, da mische ich mich lieber nicht ein. Ich zahle schnell einen doppelten Espresso und verlasse das Café.
Und nun? Auf in den nahegelegenen Parco „Ausa“. In Parks trifft man doch immer irgendwelche Herren, die es sich auf den Bänken bequem gemacht haben. Nur hier nicht. Muttis mit Kleinkindern, ein verliebtes Paar, eine Dame mit Hund, ein Jogger. Immerhin treffe ich hier überhaupt Menschen an, die zu Fuß unterwegs sind. Auf meinem Weg bis an die Staatsgrenze bin ich zwar hunderten, oder gar tausenden Autos begegnet, aber keinen Fußgängern. Keiner der im Park Anwesenden scheint allerdings hier zu sein, um den „Percorso per la Salute del Cuore“, zu absolvieren.
Dabei weisen doch Hinweisschilder an den jeweiligen Stationen des Parcours darauf hin, mit welchen Übungen das Herz trainiert werden kann. Und ein gesundes Herz sollte ja wohl eine Voraussetzung dafür sein, lange zu leben.
Nach meinen bisherigen Beobachtungen komme ich zum Zwischenfazit, dass die Langlebigkeit der Männer in San Marino wohl kaum auf besondere sportliche Betätigungen zurückzuführen sein wird. Eher auf gemächliches Arbeiten – und als Rentner dann Zeitungslesen im Café.
Doch Beobachtungen alleine können mich unmöglich befriedigen. Ich benötige jetzt unbedingt belastbare Daten, fundierte Aussagen. Ich setze mich in den Bus und fahre nach oben auf den Monte Titano, zur Hauptstadt San Marino. Und wieder eine Enttäuschung. Ich werde nicht in den Regierungssitz, den Palazzo Publico, hineingelassen.
„Heute keine Besichtigungen, es wird getagt.“ Dass ich ja den Palazzo gar nicht besichtigen möchte, sondern genau diese Herren, die hier tagen, etwas Wichtiges fragen möchte, das würde ich den Wachhabenden ja gerne erläutern, aber es gelingt mir nicht. Immerhin lassen sich die Herren fotografieren (siehe Foto oben).
Weiter nach oben, zur Bergstation der Seilbahn. Dort treffe ich auf zwei Fußballer, die auch nichts gegen ein Foto haben, mir aber auch nicht weiterhelfen können. Woher sollen der Deutsche Maximilian Arnold und der Spanier (ist es Isco? Ich bin mir nicht sicher?) auch wissen, warum die Männer hier so alt werden.
Und in der Touristeninformation? Kann man mir hier weiterhelfen? Mein freundliches „Buon giorno“ wird von einem Mann Mitte fünfzig treffsicher mit „Guten Tag, Willkommen in San Marino“ beantwortet. Der Mann hat Menschenkenntnis. Genau mein Mann. „Was, wir Männer hier haben die höchste Lebenserwartung weltweit? Das höre ich zum ersten Mal. Sehr schön, das freut mich.“ Ich freue mich ja auch, dass ich dem Mann eine gute Nachricht überbringen konnte, aber eigentlich hatte ich mir von ihm ja eine Erklärung für die Langlebigkeit der Männer San Marinos erhofft. „Und Sie wissen wirklich nicht, was Sie hier besser machen als wir, um länger zu leben?“ Noch gebe ich mich nicht geschlagen. „Nein, ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es ja am schönen Wetter?“ Ja, vielleicht. Vielleicht ja auch am guten Essen. Alles nur Vermutungen. Ich brauche Fakten.
In derartigen aussichtslos erscheinenden Situationen ist mir bisher noch immer irgendeine Lösung eingefallen. Sollte ich heute etwa versagen? Ich wage nicht einmal daran zu denken. Ich wandere ziellos weiter durch die Gassen. Wunderschöne alte Häuser hier.
Was steht denn dort auf dem Schild neben dem Eingang? „Segreteria di Stato Sanita e Sicurezza Sociale“. Hier residiert der Staatssekretär für Gesundheit und Sozialversicherung? Meine Rettung. Ich drücke an der Tür und siehe da, sie geht auf. Ich trete ins Haus und werde umgehend von einer Empfangsdame angesprochen, die in einem Raum etwa zwanzig Meter von mir entfernt an einem Tresen sitzt. Jetzt alles geben was in mir steckt, diese Chance darf ich mir doch nicht entgehen lassen. Und wie immer: mein Optimismus macht sich bezahlt. Ich bekomme hier kompetente Antworten auf meine Fragen. Und wenn Sie wissen wollen, wie die Signori es bloß schaffen, die höchste Lebenserwartung aller Männer weltweit zu haben, dann empfehle ich auch heute mal wieder, mein Buch zu lesen. Es wird sich lohnen!